Der hl. Vinzenz nahm das Gebetsleben Jesu zum Vorbild für sich selbst. Er war überzeugt, dass er jeden Tag zu Jesus gehen und ihn bitten müsse: „Herr, lehre mich beten“. Er empfand es für sich fast als Verpflichtung, im Laufe eines Tages bestimmte Zeiten dem Gebet und der Betrachtung vorzubehalten. Der hl. Vinzenz war ein Mensch beständigen Gebetes; er betete überall. Sein geistliches Tagebuch ist praktisch ein Fluss des Gebetes. In seinen Gebeten lieh er nicht Worte des Empfindens, vielmehr erstanden sie aus dem, was in seiner Seele geschah, und sie brachten zum Ausdruck, was er erfuhr und empfand. Er erreichte einen bemerkenswerten Grad kontemplativen Gebetes; sein Leben war Gebet und jede seiner Handlungen war eine bewusste und überlegte Verherrlichung Gottes.
Mit dem oben Gesagten verstehen wir, dass Spiritualität nicht darin besteht, geistliche Andachtsübungen zu verrichten, sondern vielmehr eine Umformung des eigenen Lebens ist – durch Reflexion, Betrachtung und Kontemplation des Wortes. Die Liebe Gottes, welche im Gebet erfahren wird, wird im eigenen Tun und in der Interaktion mit anderen sichtbar gemacht.
Der hl. Vinzenz ist in seinem Gebet ganz in Gott versunken. Lasst uns mit ihm beten:
„Mein Gott, jeden Augenblick nährst du mich mit deiner Weisheit und vernichtest meine Unwissenheit. Du nährst mich mit deinem unzugänglichen Licht und vernichtest in mir alle Finsternisse. Du nährst mich mit deiner unendlichen Vollkommenheit und vernichtest mein Leben, Ausbund aller Unvollkommenheiten. Du nährst mich mit deinem unendlichen Sein und vernichtest in mir das gemeine Leben, mein verabscheuungswürdiges Sein, ein Mensch der Sünde. Und durch ein Wunder deiner Barmherzigkeit, obwohl ich unendliche Male verdient habe, Gott für immer zu verlieren, gibt Gott selbst sich ganz mir, mit seinem ganzen Wesen, seiner Person und allen seinen Eigenschaften; er wird meine Nahrung und nährt mich immer, um mich in sich selbst umzuwandeln und mich eins mit sich zu machen. Daher bin ich ganz in Gott und Gott ist ganz in mir; und mit seinem ewigen Wesen bringt er mich zu allen Zeiten und in seiner Unermesslichkeit bringt er mich an alle Orte, und ich erfahre mich als ewig und eingetaucht in ihn. O wunderbarer Gott, o unendliche Barmherzigkeit”. (vgl. OOCC X, 696-698)
AH, Nov.2007